In einer raumfüllenden Installation sucht Roman Sonderegger in der Galerie Cuadro 22 in Chur unter anderem die Auseinandersetzung mit dem faszinierenden Mythos des Sisyphos. Dabei wirft ein Akt der gewagten Balance zwischen Gewicht und Schwebe den Betrachter des Werks sogleich in eine nahezu physisch greifbare Spannung, die mit Ruhe und stiller Strenge geladen scheint. Auf roh gehobelten, schmalen Dachlatten hat der 1979 in Turgi im Kanton Aargau geborene Künstler gewichtige Steine positioniert.
Teils über Kopfhöhe scheinen die Findlinge in einer unsicheren Balance zu schweben: An die Wand gelehnt, gehalten bloss durch die Statik von Wand, Eigengewicht und der eher filigran anmutenden Dachlatten ergibt sich eine vorübergehende Stabilität in der Konstruktion. Kein Stein fällt hinunter.
Die Arbeit des Sisyphos ist getan, sein endlos quälendes Schicksal scheint somit erfüllt. Wir erinnern uns: Sisyphos, der legendäre griechische König unter dessen Herrschaft die Stadt Korinth ihre Blütezeit erreicht hatte. Sisyphos aber auch, der die Götter zu überlisten suchte, indem er den Totengott Tanathos fesselte, um so seinem sicheren, durch die Götter vorherbestimmten Tod zu entgehen. Die Strafe für seine Überheblichkeit war fürchterlich: Er wurde dazu verdammt, Tag für Tag einen mächtigen und schweren Felsen den Berg hinauf zu rollen, der – kaum war der unglückliche König auf dem Gipfel angelangt – sogleich wieder hinunter ins Tal stürtzte und die Qual von Neuem beginnen liess.
Der in der Kunstgeschichte, in der Literatur und in der Philosophie oft rezipierte Sisyphos-Mythos aber findet in der Arbeit Sondereggers seine Umkehr. In der Erfüllung und in der künstlerisch gefassten Vollendung des ewig Gleichen eröffnen sich neue Horizonte: Die gewichtigen Steinblöcke ruhen und scheinen den Raum über sich selbst hinaus aufzubrechen. Die Parabel der Absurdität des stets unerfüllten menschlichen Schicksals bricht in sich zusammen und lässt den Blick weit in das Panorama über die Begrenztheit der menschlichen Existenz hinaus schweifen.
Diese Topographie der Entgrenzung findet sich denn auch in den anderen gezeigten Arbeiten wieder. In sicherem Meisselschlag lässt der ehemalige Steinmetz und Restaurator, dessen Arbeit unter anderem am Basler Münster verewigt ist, sedimentartig Linie um Linie auf grossformatigen Holzdruckstöcken erstehen, die sich in ihrer Summe wiederum als strenge und raumsprengende Kartographien des menschlichen Willens zur Transzendenz präsentieren. Auszüge und Variationen der beeindruckenden und auratisch anmutenden Holztafeln finden sich denn auch als Holzdrucke in kleiner Auflage in der Ausstellung wieder, die in ihrer klaren, reliefartigen Ausführung eine nahezu plastische Dimension erreichen.
Insgesamt gelingt es Roman Sonderegger hervorragend, die komplexe Thematik und die Tradition der Rezeption eines grossen Mythos in ein in sich geschlossenes und äusserst stimmiges Werk- und Ausstellungskonzept zu fassen. Dieses wiederum sucht die mythologische Grundlage und ihre Konfrontation mit dem aktuell menschlichen Dasein in grosser Breite und verschiedenen künstlerischen Medien ästhetisch auszuloten. Die Eingangs gestellte titelgebende Frage „und nun“? ist mit der gelungenen Installation so dann auch mehr als beantwortet.
Saaltext zur Ausstellung von Andrin Schütz, Kunsthistoriker